Gesellschaftsvertrag: Der Mensch und die Institutionen

Gesellschaftsvertrag: Der Mensch und die Institutionen
Gesellschaftsvertrag: Der Mensch und die Institutionen
 
Montesquieulitt unter dem rechtlosen und unwürdigen Zustand des absolutistischen Staates und sah in England, dessen Rechtsordnung - politisch und ökonomisch von Erfolgen gekrönt - seine Bürger in Übereinstimmung mit der Regierung hervorgebracht hatten, ein nachahmenswertes Modell. Rousseau litt ebenfalls; er machte das Leiden des Menschen zu seinem Thema. Er fand aber kein Vorbild in der Wirklichkeit, und er wog nicht bessere Verfassungen gegen schlechtere gegeneinander ab, sondern stellte die gesamte Entwicklung des Menschen in der Geschichte in Frage. Gewiss war Rousseau von dem republikanischen Kleinstaat Genf geprägt, aber was ihn wirklich beschäftige, war die Stellung des Menschen zwischen einer ursprünglichen Natur und einem entfremdeten Leben in verdorbenen und verderbenden Institutionen.
 
Eine der ungelösten Fragen, welche das Jahrhundert der Aufklärung aus der Vergangenheit übernommen hatte, war die Frage nach dem Ursprung des Übels. Eine mächtige Wirkung übte noch immer - obwohl schon nicht mehr in Mode - John Miltons Epos »Verlorenes Paradies« von 1667 aus, das 1674 in seiner endgültigen Fassung erschienen war. Der Fall der Engel und der Sündenfall des Menschen in Gottes Schöpfung waren immer noch das größte Rätsel und der erhabenste poetische Gegenstand. Nicht weniger verwirrend war die säkularisierte Fassung dieser Frage, die Edward Gibbon darstellte: Warum gerade seit der Einführung des Christentums das Römische Reich seinen Niedergang und Fall erlebte. Die Aufklärer bezogen sich, wenn es metaphysisch ernst wurde, nicht auf freundliche Frühaufklärer wie Fontenelle, sondern auf die bohrenden Religionsphilosophen Pascal und Pierre Bayle.
 
Eine naturrechtliche Kritik der Ungleichheit der Menschen, eine Verurteilung der Herrschaft und des Besitzes, der über das Maß der Arbeitsfähigkeit des Einzelnen hinausgeht, und eine negative Ansicht der Fortschritte der Zivilisation gab es längst. Was Jean-Jacques Rousseau hinzubrachte, waren die Identifizierung des Problems mit seiner Person, seinem Schicksal und eine damit einhergehende Radikalisierung. Als Sohn eines einfachen Uhrmachers und ohne besondere Bildung geriet er in die gesellschaftlichen Kreise des Adels, die sich den wissenschaftlichen und politischen Fragen der Philosophen öffneten. Zunächst liebenswürdig und offen, dann von unerfüllbaren Erwartungen und Verfolgungswahn geplagt, wandelte er sich vom Maskottchen zum Ankläger, wobei sich die verquälte Rhetorik seiner ersten Versuche bald zu poetischer Qualität und prophetischer Kraft entfaltete.
 
Die Preisfrage der Akademie von Dijon, »Ob die Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften zur Reinigung der Sitten etwas beigetragen habe?«, beantwortete Rousseau mit einem provokativen »Nein«. Jansenisten und Pietisten hätten ihm vom Standpunkt des Glaubens ohne weiteres zugestimmt, das Aufsehenerregende an der Argumentation Rousseaus aber war, dass er nicht von der Religion ausging, sondern von einer Vision des ursprünglichen Menschen. Dabei hatte er, wie Lessing in einer Rezension schrieb, »so erhabene Gesinnungen mit einer so männlichen Beredsamkeit zu verbinden gewusst, dass seine Rede ein Meisterstück sein würde, wenn sie auch von keiner Akademie dafür wäre erkannt worden.«
 
Viel überzeugender als sein kulturkritischer Versuch, den Beitrag von Wissenschaften und Künsten zum Verfall der Sitten zu klären, war seine These von der Unbedingtheit der Werte und Urteile sowie sein Appell an das Gefühl. Rousseau schilderte die Ausbildung seines philosophischen Grundgedankens als eine plötzliche Offenbarung, als Vision in einem Zustand der Entrücktheit, worin er das System der Ursachen und Folgen deutlich vor Augen sah, das er aber nur unvollkommen mit Worten wiedergeben konnte. Seine Sehnsucht nach Einfachheit und Unschuld, das Unbehagen an einer komplizierten und schwer durchschaubaren Zivilisation, übertrug sich rasch auf die jungen Leser des gebildeten Europa. Diese Vorstellung eines ursprünglichen Zustands des Menschen heftete Rousseaunicht an eine konkrete geschichtliche Situation, die sich in historischer Frühzeit oder bei den edlen Wilden in fernen Ländern nachweisen ließe, sie ist eine Konstruktion - wie der biblische Mythos von der Unschuld vor dem Sündenfall. Rousseau deutete damit nicht die Geschichte, sondern suchte sich von ihr zu befreien. Es ging ihm um die Heilmittel, durch die in einem fortgeschrittenen Stadium der Krankheit noch Hilfe zu schaffen wäre.
 
In der Skizze der Entstehung der bürgerlichen Ungleichheit durch die Erfindung des Eigentums, die Einrichtung einer Obrigkeit und den Übergang von gesetzlicher zu willkürlicher Herrschaft war Rousseau nicht originell. Das gehörte zum Naturrecht und zur Vertragstheorie. Er aber verwandelte den Gegenstand juristischer und historischer Reflexion zu einer Sache der Leidenschaft, die er mit der Beredsamkeit des Herzens vortrug. In dem Maße, in dem die bisherige Erziehung des Menschen verkehrt und verdorben war, verschlechterte sich auch notwendigerweise der gesamte Zustand der Gesellschaft und ihrer Institutionen. Rousseau entwarf darum in seinem Erziehungsroman »Émile« eine, wie er glaubte, natürliche Lehre der Erziehung und daneben die Lehre vom »Gesellschaftsvertrag«, die nach längerer Vorbereitungszeit wie jener 1762 erschien.
 
Die Souveränität des Volkes, die Freiheit des Menschen und die Gleichheit der Bürger vor dem von ihnen gebilligten Recht sind die Prinzipien von Rousseaus Staatslehre. Sie sind am Staatsrecht der antiken Republiken und an den modernen wie der von Rousseaus Vaterstadt Genf gewonnen, und sie bilden die Grundlage der modernen Demokratie. Zu Rousseaus Zeit schien die Demokratie fern von der politischen Realität der großen Machtstaaten zu liegen. Die europäische Aufklärung und die Französische Revolution, die allerdings mehrere Generationen brauchte, um diese Staatsform zu verwirklichen, haben aber letztlich die moderne Geschichte verwandelt. Hegel sollte in seiner »Rechtsphilosophie« (1817) an Rousseau rühmen, das »Denken selbst, nämlich den Willen als Prinzip des Staates aufgestellt zu haben«. Die ursprüngliche und unveräußerliche Freiheit des Menschen, auf die man nicht verzichten könnte, ohne auf die Eigenschaft, Mensch zu sein (»la qualité d'homme«), Verzicht zu tun, beruht auf dem Willen. Diese Freiheit besteht nicht in einzelnen, gegeneinander abzugrenzenden Ansprüchen und Interessen. Sie muss sich durch den Gesellschaftsvertrag als allgemeiner Wille (»volonté générale«) konstituieren, der auch nur das allgemeine Interesse betrifft: Durch seine Teilhabe am allgemeinen Willen verliert der Einzelne seine Willkür, und er erfährt, was er wahrhaft will, seine Freiheit, sein Eigentum und die gesetzliche Gleichheit. Die Demokratie, die Rousseau aus Prinzipien entwickelte, ist nicht die erfolgreiche Staatsform eines bestimmten Volkes, wie sie für Montesquieu die republikanische Monarchie der Engländer darstellte, sondern ein Ideal. Allerdings kein wirklichkeitsfernes, sondern eine regulative Idee, an der alles politische Handeln zu messen wäre.
 
Rousseau teilte mit seinen Zeitgenossen die Auffassung, dass nur ein kleiner Staat, worin die Bürger sich versammeln und beraten können, zur Demokratie geeignet sei. Seine Bemerkung, nur ein Volk von Göttern könne sich vollkommen demokratisch regieren, zeugt nicht von Resignation, sondern vom Bewusstsein der Schwierigkeiten. Als Hölderlin in seiner Ode »Rousseau« von »kommenden Göttern« sprach, so hatte er nicht eine neue Religion vor Augen, sondern die reifen Menschen der Zukunft, die sich demokratisch regieren werden.
 
Prof. Dr. Horst Günther

Universal-Lexikon. 2012.

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